Ist das USP Kapitel 1010 zur Interpretation von analytischen Daten Zwangsjacke oder Hilfe?

Guidelines und Arzneibuchmonographien werden oft primär als Einengung verstanden; die USP-Monographien ab 1000 sind jedoch offiziell Empfehlungen bzw. ergänzende Informationen, die insgesamt sehr nützlich sind. Das ändert nichts daran, dass vieles, was sachlich richtig und auch vernünftig ist, nicht immer bereits beim ersten Lesen verständlich ist. Das gilt - unabhängig von allen Guidelines und Monographien - ganz besonders für viele Methoden, Tools und Formeln der Statistik, in der die meisten Analytiker nur unzureichend ausgebildet sind.

Ein Beispiel: Jemand hat einen Wert ermittelt, z.B. den Wirkstoffgehalt in einer Probe. Und dann kommt die Frage auf (z.B. nach amtlicher Probenahme,  z.B. bei der Bearbeitung einer Reklamation,  z.B. bei der Evaluierung eines OOT-/OOE-/OOS-Befunds): Welche Erwartung kann man hinsichtlich des Ergebnisses einer weiteren Prüfung haben? "Ganz einfach" werden jetzt viele Leser denken, da rechnen wir den Vertrauensbereich des Mittelwerts aus nach der Formel s*t/Wurzel(n) - dann haben wir eine Aussage, der wir vertrauen können.

Ja, der Formel kann man vertrauen - aber diese Formel liefert keine Antwort auf die gestellte Frage, sondern auf eine andere (hier gerade nicht gestellte) Frage. In der Praxis wird sehr oft mit dieser Formel gerechnet, das Ergebnis wird aber falsch interpretiert.

Da muss folgender Hintergrund berücksichtigt werden: Analysen werden überwiegend mit Stichproben durchgeführt, die eine Gesamtheit (eine Charge (z.B. in der Freigabeprüfung), ein Herstellverfahren oder ein Analysenverfahren (in der Validierung)) repräsentieren sollen.  Repräsentieren: man will aus der Stichprobe gültige Aussagen zur Gesamtheit oder zu einem bestimmten Teil der Gesamtheit machen. Die unabdingbare Voraussetzung dafür ist ein mathematisch fassbarer Zusammenhang zwischen allen Elementen der Gesamtheit (zumindest im statistischen Sinn) (--> Verteilung genannt).

Die eine häufige Frage/Verallgemeinerung bezieht sich auf alle Elemente der Gesamtheit (charakterisiert durch die beiden Parameter der die Gesamtheit beschreibenden Verteilung). Diese Fragestellung ist einfach zu beantworten: Wir dürfen vermuten, dass der erarbeitete Mittelwert der Stichprobe ein guter Schätzwert für den Lageparameter (Erwartungswert) der die Gesamtheit beschreibenden Verteilung ist.  Die Frage nach der Unsicherheit des so ermittelten Schätzwerts wird mit dem Vertrauensbereich beantwortet; dieser gibt ein Intervall um den Schätzwert an, in dem mit z.B. 95 % Wahrscheinlichkeit der geschätzte Parameter (der Erwartungswert der die Gesamtheit beschreibenden Verteilung) liegt.  Mit zunehmendem Stichprobenumfang (n=100,  n=1000, n=100000) wird der Vertrauensbereich (der die Unsicherheit der Schätzung quantifiziert) enger.

Die Ausgangsfrage "Wo wird der nächste Wert liegen?" (oder ähnlich "Wo werden 90 % aller Werte liegen?") ist eine ganz  a n d e r e   Frage.
Während das Konfidenzintervall bei sehr großen Stichproben sehr klein wird (der gesuchte Lageparameter der Verteilung wird von der sehr großen Stichprobe sehr zuverlässig geschätzt), wird das Intervall, in dem der nächste Wert (90 % aller Werte) zu erwarten ist, auch bei extrem großen Stichproben nicht so klein werden. Hier bedarf es anderer Formeln.

Das ist für viele Situationen und Fragestellungen sehr praxisrelevant.  Beispiele:

  • Methodentransfer: Wo dürfen wir nach erfolgreichem Know-how-Transfer die Ergebnisse der vergleichenden Analysen (Erfolgskontrolle des Methodentransfers) erwarten? (wichtig für das sachlogisch richtige Setzen der Akzeptanzlimits).
  • Methodenvalidierung / Bewertung der Routinetauglichkeit für gesetzte Produktspezifikation: Wo dürfen wir in Zukunft die Wiederfindungsrate eines schwierigen Analysenverfahrens erwarten?
  • Evaluierung Limit-nahe Charge: Wo dürfen wir die Ergebnisse von Wiederholungsanalysen erwarten (z.B. im Rahmen der Haltbarkeitsüberwachung (ongoing stability) oder nach amtlicher Probenahme)?

Solche und viele andere Fragen stehen im Hintergrund der USP<1010>, und werden in den Seminaren "Statistisches Denken für Analytiker I und II" ausführlich und gut verständlich dargestellt und diskutiert. Die Teilnehmerzahl ist begrenzt - Sie können sich bereits jetzt anmelden.

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